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Sie ist es offensichtlich gewöhnt, dass man sie in den Arm nimmt zur Begrüßung, das wäre wohl das Mindeste. In ihrer Kindheit wurden Laolawellen zelebriert, wenn sie auf den Plan trat. Heute ist das anders. Ihr Antlitz wird mit Zögern gemustert und die ehemals aufflammende Vorfreude wich im letzten Jahr grundlegender Skepsis. Wir sehen ganz deutlich, was das aus Festivalia gemacht hat:
Ein Wagnis.
Sie betritt die Praxis des Herrn Dr. Dr. Zwiebeling. Die beiden schauen sich in die Augen, die Begrüßung fällt sehr nüchtern aus, die Enttäuschung ist ihr buchstäblich ins Gesicht geschrieben, auch hier keine Laola. Nicht mal irgendeine Welle oder wenigstens Woge. Herr Dr. Zwiebeling bittet sie auf seine zugegebenermaßen klischeebehaftete rote Ledercouch, die beiden schauen sich eine Weile an bevor es völlig ungefiltert aus Festivalia herausbricht:
"Alle wollen mich, aber niemand kann mich haben. Ich fühle mich unnahbar, einsam und im Stich gelassen. Da draußen sind so viele Leute, die ich einfach nicht mehr an mich heranlassen kann. Ich habe Angst, sie vergessen mich, ersetzen mich und wir finden niemals wieder zueinander.", erzählt sie mit zittriger Stimme. Tränen rinnen ihr bereits bei den ersten Worten über die blass gewordenen Wangen.
"Was soll nur aus mir werden?"" schließt sie ihren kurzen Monolog schluchzend ab.
Riesige Herausforderungen
Der Doktor reicht ihr ein Taschentuch und greift sich ans Kinn. Er nickt ihr verständnisvoll zu.
„Nun, ich verstehe Sie sehr gut. Wenn das Leben sich so abrupt verändert, stellt einen das vor immense Herausforderungen.
Wie kam es denn zu der Spaltung zwischen Ihnen und ihren Lieben?“
Festivalia schaut ihn ungläubig an, als ob er nicht wisse, was geschehen war. Die ganze Welt wusste es, ihr Leben wurde in den letzten Monaten medial derart mikroskopiert, dass es unmöglich schien, es nicht zu wissen. Dennoch würde sie es ihm mit ihren eigenen Worten erklären müssen.
"Nun, alles begann mit meiner Cousine zweiten Grades, Apreskia. Sie ist noch jung und unerfahren, außerdem neigt sie zum Egozentrimus. Sie hatte kurz nicht aufgepasst und wurde ziemlich schnell abgesägt, viele ihrer Freunde hatten sich mit einem Virus infiziert, an dessen Verbreitung man ihr die Schuld gab. Dann ging alles Schlag auf Schlag, da wird mir sogar beim Erinnern ganz schwindelig. All meine Organisatoren wurden plötzlich langsamer und viele hörten dann sogar komplett auf, mit mir zu arbeiten. Die Krise sei schuld, sie mache es unmöglich, mich zu planen geschweige denn durchzuführen. Viren, überall Viren. Erst habe ich gedacht, dass sei nur eine Phase. Doch dann hat die Regierung mich auch noch offiziell für gefährlich erklärt, man hat sogar nach mir gefahndet. Das geht nun schon über ein Jahr so. Inzwischen weis ich nicht mehr, wohin mit mir. Deswegen bin ich hier.“, schließt sie und ringt um Fassung.
Ein schweres Trauma
Der Arzt denkt einen kurzen aber bestimmten Moment nach, scheint sich zu sortieren und antwortet, nicht ohne vorher einen tiefen, ja fast schon meditativen Atemzug, getan zu haben: "Festivalia, Sie haben ein schweres Trauma erlitten, Ihr ganzes Leben wurde umgekrempelt, seien Sie nicht so hart zu sich selbst. Es braucht Zeit, einen solchen Schicksalsschlag zu verarbeiten. Jedem, dem ein Jahr seines Lebens gestohlen würde, ginge es genauso. Bei Ihnen sind es nun sogar schon beinahe zwei. Dennoch, bei allem Leid, sehen Sie denn gar keine Chance in der Zukunft?“
Festivalia stuzt erst, holt dann aber aus: „Ich rede mir ja ein, dass sich aus diesem Zeitloch Chancen für die Zukunft ergeben. Aber so richtig kommt mir keine Idee habe, wie das aussehen soll. Vielleicht bin ich auch einfach nur einfallslos im Moment, weil mir die Vision fehlt. Ich war früher mal so energiegeladen und motiviert. Jeder hatte leuchtende Augen, wenn er von einer Zukunft mit mir sprach oder in Erinnerungen von früher schwelgte. Ich war der Klassenliebling, everybodies Darling. Und jetzt verbreitet schon die bloße Idee meiner Anwesenheit lange Gesichter, Angst und an manchen Stellen sogar Hass. Ich halte es kaum aus, dass ich so betrachtet werde. Ich hab doch gar nichts getan.“
Ist das Ende nah?
Dr. Dr. Zwibeling setzt ein ernstes Gesicht auf: „Ich muss Ihnen diese Frage jetzt stellen. Bitte seien Sie ehrlich! Haben Sie, wenn auch saisonsale, Suizidgedanken?“
Schon wieder stiegen ihr die Tränen in die Augen: „Um ehrlich zu sein, ja. Ich habe Angst, mich selbst zu verlieren. Oft denke ich, dass ich lieber nicht mehr da sein möchte, wenn ich nicht so sein kann, wie ich bin. Ich bin kein Distanztyp, Nähe war mir schon immer sehr wichtig. Und auch Hygiene ist kein in meiner DNA verankertes Molekül. Ich fürchte, dass ich nur eine ziemlich traurige Version meiner selbst wäre, würde ich heute stattfinden. Manchmal liegt der Gedanke nicht fern, mich selbst von der Bildfläche zu verabschieden. Ich will kein Risiko sein, das fühlt sich richtig scheiße an.“
Mit diesen Worten nimmt ihr Gesicht ein klein wenig das Antlitz einer bockigen Fünfjährigen an, der ein Eis verwehrt wird. Der Doktor erkennt den brodelnden Emotionsvulkan und beschwichtigt ein wenig:
„Sie dürfen das nicht so persönlich nehmen, es geht doch hier inhaltlich gar nicht um Sie direkt. Es geht viel mehr um die Tatsache, dass Sie vereinen, was gerade nicht vereint werden darf – nämlich Gemeinschaften, Ansammlungen von Menschen. Ganz sachlich betrachtet geht es hier eben um die Vermeidung von physischen Kontakten. Wie geht es Ihnen denn, wenn Sie sich das vor Augen halten?“
„Ich finde es schrecklich. Ich höre meine Jünger nach mir rufen, sie schreiben Liebesbriefe, ja sogar Beileidsbekundungen erreichen mich. Ich bin entzückt. Aber ich bin entzückt in meinem Wohnzimmer. Ich darf nicht raus, nicht mit den Menschen kommunizieren, ihnen nichts von dem geben, wonach sie verlangen. Was bin ich denn für ein Freund, für ein herzloses Wesen, wenn mich ihr Verlangen kalt ließe. Es zerreißt mir das Herz. Und wenn ich überlege, dass das jetzt noch ein, vielleicht sogar zwei Saisons so weitergeht, müsste ich mich hemmungslos betäuben, um nicht noch weiter darüber nachzudenken. Ich versuche es wirklich zu ignorieren, Nachrichten schaue und höre ich seit Wochen nicht mehr, ich verstecke mich in meiner eigenen kleinen Blase.“
„Und was tun Sie da in ihrer Blase?“
„Zuerst wollte ich mich motivieren, habe mir Pläne geschmiedet, wie ich noch attraktiver werden kann, was mein Outfit für die Zukunft angeht und welches Make up ich in den nächsten Jahren tragen werde. Für das Thema Nachhaltigkeit hatte ich bisher nur wenig Kapazitäten, deswegen hatte ich es als Chance verstanden, mich dem jetzt mal intensiver widmen zu können. Dass diese sogenannte Chance allerdings ein solches Ausmaß annehmen würde, habe ich mir vor einem Jahr nicht ausmalen können. Meine Motivation, mir etwas Neues auszudenken schwindet von Tag zu Tag, weil ich irgendwie ernsthaft zweifle, ob meine Quarantäne je enden wird. Vielleicht hat mich die Welt ja bis dahin auch vergessen und alle sind glücklich mit den Streams an ihren Screens. Tief in mir drin will ich ausbrechen, wenn auch nur ganz klein, ich will einfach da sein dürfen, das stelle ich mir wunderbar vor. Aber irgendwie läuft der Sensenmann auch immer durchs Bild in meinem Kopfkino.“
Herr Dr. Dr. Zwiebeling zupft sich eine Weile am Kinn und erläutert dann recht trocken und wissenschaftlich: „Offensichtlich leiden Sie unter akuten Zukunftsängsten. Dies ist auch nach dem, was Ihnen widerfahren ist, sehr nachvollziehbar. Was fehlt Ihnen gerade am meisten?“
Festivalia überlegt noch nicht lange, als ihre Unterlippe wieder zu beben beginnt: „Ich habe total weiche Knie. Schon morgens beim Aufstehen aus dem Bett fühle ich mich wackelig, manchmal so, dass ich nicht hoch komme, ohne mich festzuhalten.“
Am meisten fehlt der Austausch von Gesten, Wörtern, Taten und Freundschaften, von Liebe.
Sie beruhigt sich ein wenig, räuspert sich kurz und macht den Anschein, sich selbst für diesen neuerlichen Ausbruch zu rügen. Dann fährt sie fort: „Ich wünsche mir meine monumentale Standhaftigkeit zurück, sie war Säule meiner Existenz. Ohne diese Standhaftigkeit kann ich nicht existieren, sie ist genauso wichtig wie Planungssicherheit, meine zweite Säule, die fehlt mir übrigens auch sehr. Aber am meisten vermisse ich all die Menschen und ihren Austausch von Gesten, Wörtern, Taten, Freundschaften, von Liebe.“
Sie schließt ihre Antwort mit einem Blick gen Himmel, als ob sie die Hoffnung trüge, von dort Hilfe zu erwarten. Dr. Dr. Zwiebelling erkennt diesen Blick sofort und hakt nach: "Was wünschen Sie sich für die Zukunft und wie meinen Sie, das umsetzen zu können? Glauben Sie dabei an Unterstützung von „oben“?
Festivalia denkt ein wenig nach, ihre trüben Augen werden klarer als sie antwortet:
"Ach, es wäre herrlich, ich könnte an Tragkraft gewinnen, mehr Sinn bekommen und meine Bedeutung steigern. Das wünsche ich mir schon seit Jahren. Stellen Sie sich mal vor, ich könnte wie auf den Schwingen eines Phoenix zurückkehren, mit Pauken und Trompeten sozusagen. Manchmal träume ich vom roten Teppich, der für mich ausgerollt wird, wenn ich endlich wieder raus darf. Er liegt dann direkt vor meiner Haustür. Verrückt, ich weiß, aber dennoch träume ich das immer wieder."
Während ihrer Ausführungen hatte sie ihre Augen geschlossen, ihr Gesicht begann zu lächeln. Mit einem Ruck öffnen sich ihre Augen und sie fährt nüchtern fort: "Ob mir von oben jemand helfen kann, weis ich nicht. Ich bete jeden Tag, aber die Regierung überweist immer nur noch mehr, mein Konto quillt beinahe über. Als ob die meinen Schmerz bezahlen wollten. Dass Geld oft gar nicht hilft, vor allem gegen solche Schmerzen, wurde mir im letzten Jahr noch mal besonders klar."
Wie der Blick in die Glaskugel
Sie schluckt. "Da sind so viele Variablen, zu viele Optionen, es ist, als ob ich in eine Glaskugel schaue, die nur vernebelte Bilder zeigt."
Der Arzt macht sich einige Notizen und tauscht die Reihenfolge seiner übereinander geschlagenen Beine. Dabei sieht er auf die Uhr und erweckt damit bei Festivalia ein wenig den Anschein, als ob er noch etwas vor hätte: "Und wie geht es dann in Ihren Träumen für Sie weiter, nach Ihrem Comeback?"
Sie zögert nicht lange und schießt sofort beinahe heroisch los: "Oh ja, ich werde ein Anker der Gesellschaft, den sie so herbeigesehnt hat. Ich werde wichtig und nicht selbstverständlich, man achtet mich als Teil des Lebens, ich bin mehr als bloße Freizeitgestaltung. Im ungünstigsten Fall stehe ich an dergleichen Stelle wie vor zwei Jahren um diese Zeit und habe zwar einige Hochs, aber auch jede Menge voll gekotzten Rasen zu erwarten."
Herr Dr. Dr. Zwieblling schaut erneut auf die Uhr, räuspert sich und erklärt dann:
„Liebe Festivalia, leider sind unsere ersten 90 Minuten bereits um. Aber ich konnte einen Einblick in Ihre Ängste und Visionen bekommen. Ich schlage vor, wir sehen uns ab kommendem Montag zwei mal pro Woche, um etwas tiefer einzusteigen in die angesprochenen Themen, auch werden wir wohl über Ihre Eltern reden. Außerdem würde ich Ihnen empfehlen, weiterhin so wenig wie möglich Medien zu konsumieren, diese stiften aktuell viel Unruhe und liefern oft nur halbgare Informationen. Mir ist klar, dass das sehr schwer ist, vor allem, wenn der eigene Geburtstag naht, man den ganzen Tag zu Hause sitzt, und sich selbst so viele Fragen stellt. Versuchen Sie, immer wieder tief durch zu atmen! In meinem Wartezimmer liegt ein Buch, das heißt „Anleitung zur Meditation“, nehmen Sie es sich gern mit und versuchen Sie es mal."
Festivalia freut sich über die Tatsache, dass der Arzt ihr offenbar helfen will – warum sollte sie sonst wiederkommen dürfen!? - und in ihr keimt Hoffnung. Als sie jedoch vor lauter Dankbarkeit über den Ansatz eines wohlwollenden Gefühls einen Schritt auf den Doktor zumacht, um sich, wie Sie es als Kind gelernt hat, mit einer wertschätzenden Umarmung zu verabschieden, weicht dieser entschieden zurück.
Der Arzt stammelt kleinlaut, er sei noch nicht geimpft, seine Frau habe Asthma und außerdem würde er Patienten generell ungern so nah kommen. So verlässt Festivalia die Praxis mit einem mulmigen Gefühl, jedoch mit einem Termin für kommenden Montag und dem Buch zur Meditationsanleitung. Vielleicht hat er recht und sie muss einfach ein bisschen ruhiger werden...